
Eine Ode an die Toleranz: Meine Tolerade 2025
Dieser Tage das Weltgeschehen nicht Schwarz zu sehen, fällt schwer. Auch mit rosaroter Brille sieht alles ganz trüb aus. Am Freitag ist Margot Friedländer gestorben – und mit ihr ein Teil von mir. Sie war eine Frau großer Bewunderung, die ich sehr schätzte und deren Bücher, Reden und Interviews ich konsumierte wie mancher Drogen früh um 5 Uhr.
Seit dem Interview mit der deutschen Vogue im vergangenen Jahr liegt Margot fein säuberlich auf dem Marmortisch in meinem Wohnzimmer, während sie mit ihrer Wärme dem Kaminsims zulächelt. Dort steht in einem weiß-rosa Kleid, gerahmt von lackiertem Holz, das Bild meiner verstorbenen Oma. Sie hätten sich gemocht – und gegenseitig so einiges aus der Nachkriegszeit zu berichten gehabt.
Zwei ganz unterschiedliche Frauen, zwei mehr als verschiedene Leben. Und doch einte sie eine große Sache: Die Toleranz. Streng katholisch erzogen, ließ mich meine Oma mit dem ersten Funken gleichgeschlechtlicher Liebe wissen, wie sehr sie dies doch akzeptiert und bezeichnete meinen Freund damals als Familie – „wie mein eigener Enkel.“


Es tut auch gar nicht weh, tolerant zu sein. Ganz im Gegenteil sogar. Es macht Spaß. Ob mit leisen Worten und Gesten im Alltag, die Menschen zusammenkommen lassen und Türen öffnen, oder mit Demonstrationen und Umzügen, die mit lauten Gesängen und Bässen die Tore einschlagen, die sich bisher noch nicht öffnen ließen.
Gestern war die Tolerade in Dresden, ein Bündnis von Dresdner Kulturschaffenden aus dem Bereich der elektronischen Musik und zivilgesellschaftlichen Akteuren wie du und ich. Das Ziel: dem Klima der Fremdenfeindlichkeit und Ignoranz etwas entgegensetzen.
Ich war nervös. Nicht, weil es meine erste Tolerade war, sondern wegen meines Outfits. Shorts und Hoodie, eine Adidas-Jacke über die Schultern geworfen, dazu eine pinke Sonnenbrille – modisch irgendwo zwischen Joggingrunde und Berliner Clubnacht. Meine Freunde hatten’s auch nicht leichter. Jede WhatsApp-Nachricht klang wie eine Mischung aus Stylingberatung und Gruppentherapie.
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Die eigene Unsicherheit, ob Shorts und Hoodie nun „Demolook“ oder doch eher „Ravekultur“ sind, verschwand spätestens beim Anblick eines Mannes in Netzstrumpfhose, Plateaustiefeln und einem Schild mit der Aufschrift „Make Saxony Queer Again“. Auch Mode hat hier eine Mission – und wer hätte gedacht, dass Schwarz so laut sein kann? Oder anders ausgedrückt: Egal wie du erscheinst, Hauptsache du bist da.

Junge und alte Menschen. Männer, Frauen und alle dazwischen. Queer, hetero, laut, leise, glitzernd, grau, religiös, atheistisch, irgendwo dazwischen oder ganz woanders herkommend. Ob mit Hoodie oder Netzstrumpfhose. Hauptsache: Mensch. Und im besten Fall: nett.
Und dann war da noch dieser Mann. Alt, etwas krumm, mit neugierigem Blick. Auf dem Weg zum Umzug, ließ ich ein Auto in eine Tiefgarage einbiegen, als er plötzlich neben mir stand.
„Was soll das denn werden?“ fragte er mit einem Tonfall, den ich erst nicht ganz deuten konnte.
„Wie bitte?“
„Was soll das denn werden für eine Fete?“
„Die Tolerade“, sagte ich.
„Die was?“
„Eine Demo für mehr Toleranz allgemein.“
Er machte eine Pause, runzelte die Stirn – und sagte dann: „Wow, das klingt toll. Habt ganz viel Spaß.“
Ich war überrascht. Erst klang er so trocken, fast grob. Aber dann lächelte er. Und es war dieses echte, warme Lächeln, das zeigt: Da ist jemand, der vielleicht nicht alles versteht, aber wissen will, worum es geht. Ich glaube, er war einfach schüchtern – aber interessiert. Ein Lächeln, was mich an Margot Friedländer erinnert.
Zwischen Generationen und Menschen Brücken bauen. Darum geht es. Darum ging es auch Margot Friedländer. Und darum geht es mir. Es sind nicht nur Reden, Schilder und Bässe. Es sind diese kleinen Begegnungen, die Hoffnung machen.

Zwischendrin stand ich einfach nur da und ließ mich treiben. Von der Musik, den Farben, den Menschen. Ein Mädchen reichte mir einen Aufkleber mit der Aufschrift „Leben lieben“ – ich hatte sie noch nie gesehen, aber sie grinste, als würden wir uns seit Jahren kennen. Irgendwer hatte Seifenblasen dabei, irgendwo wurde spontan getanzt. Es war nicht geplant, nicht perfekt, nicht choreografiert – und genau deshalb so ehrlich.
Ich dachte daran, wie oft man im Alltag funktioniert. Wie oft man still ist, höflich, angepasst. Und wie befreiend es ist, für ein paar Stunden einfach nur zu sein. Nicht um etwas zu beweisen, sondern um gemeinsam mit anderen zu zeigen: Wir sind viele. Wir sind laut. Und wir lassen nicht zu, dass Hass lauter wird als Menschlichkeit. Stell dir vor, in deiner Stadt wird das bunte Leben gefeiert – und du gehst nicht hin. Der Endgegner von „Fear Of Missing Out“. Aber in diesem Fall würde man verpassen, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Ziemlich peinlich. Und irgendwie auch ganz schön langweilig.
So wurde die Tolerade 2025 für mich zur Ode an das Andere. An das Unangepasste. An das Mutige. Wer glaubt, Toleranz sei still und höflich, war noch nie auf der Tolerade. Denn hier schreit sie – mit Nebelmaschine, Lichtern und einem Soundtrack, der sich tief in die Synapsen brennt.
Und während der letzte Beat verklingt und der Asphalt sich wieder der Ordnung unterwirft, bleibt ein Gefühl: Es gibt Hoffnung. Solange Menschen tanzen, statt zu marschieren, solange High Heels über Pflastersteine klappern, wo sonst nur Boots und Parolen hallen, solange bleibt die Tolerade das, was sie sein muss – eine laute Liebeserklärung an die Freiheit.
Margot Friedländer hätte das gefallen. Weil es genau das ist, woran sie geglaubt hat: Dass wir nicht wegsehen, nicht vergessen – und niemals aufhören, Mensch zu sein.
