
72 Stunden Fashion Week Berlin mit Mister Matthew
And just like that sitze ich wieder im Zug zur Fashion Week Berlin, habe dabei Blasenpflaster für meine Füße vergessen und bin jetzt schon wieder hundemüde. Geändert scheint sich nichts zu haben – und doch fühlt es sich gänzlich anders an. Vergangene Woche habe ich auf meine Fashion Week Teilnahmen aus dem Jahr 2015, 2016 und 2017 zurückgeblickt und musste feststellen, wie fern und fremd sich das anfühlt. Eben anders. Was sich allerdings nicht geändert hat, sind Lust und Sucht nach modischer Inspiration. Also habe ich kurzerhand beschlossen, der Fashion Week Berlin mal wieder einen Besuch abzustatten.
In alter Blogger-Marnier habe ich mir den Kalender vollgehauen, um mal wieder in die Modeszene der Hauptstadt einzutauchen. Hier kommen 72 Stunden Fashion Week Berlin mit Mister Matthew – das bin ich. Ich, ohne Blasenpflaster und schon wieder hundemüde.


Christiane Arp, ehemalige Chefredakteurin von Vogue Germany und aktuell Vorsitzende vom Fashion Council Germany, sagte zu Beginn ihres Panel Talks (dazu später mehr), sie sei froh, die Fashion Community wiederzusehen. Das war ihr nicht so ganz gewiss, nachdem zu tiefen Lockdown-Zeiten von Modenschauen auf Kinoleinwänden in der Zukunft die Rede war.
„Fashion Week, das ist auch immer das gemeinsame Sprechen und Essen, Taxi und U-Bahn, Streetstyle und Smalltalk bei den Schauen. Das ist in den Flieger steigen und den Ort der Fashion Week wieder verlassen, mit den Dingen, die man von dort hat.“

Damit trifft es Arp wie eine Nadel spitz auf den Punkt – und das ist es, was sich im Vergleich zu meiner letzten Fashion Week nicht geändert hat. Der Stress, der Trubel, die Show vor der Show. Das gemeinsame Austauschen und Kennenlernen – und das wieder Fremdeln mit dem Alltag. Denn Fashion Week ist alles andere als Alltag. Die Modewoche zieht einen von dort heraus und katapultiert uns direkt in ein Wurmloch. Plötzlich sitzt man nicht mehr alleine vor seinem Endgerät und scrollt stundenlang durch Instagram, Pinterest und Vogue.com, sondern sieht Mode vor dem Auge passieren. Das beeindruckt und lässt die oft unwirklich anmutende Modewelt so herrlich normal und alltäglich wirken.


Ein Ritt zum Auftakt mit Bunte und modischen Jungs aus dem wilden Westen
Den Auftakt gab sich Bunte mit der Bunte New Faces Party. Am Abend auf der New Faces Party, am Morgen auf Google: „Bis wann zählt man eigentlich als New Face?“ Ob als New Face oder als Veteran der guten Garderobe und alten Bloggerhasen, eins steht fest: Mode ist zeitlos. Mein modisches Highlight der Party: Paul Bunne mit Cowboy-Hut. Ein mutiges Statement, doch ein trendiges Accessoire, welches für eine Saison getragen und dann wieder bis zu nächsten Gelegenheit im Schrank verstaut wird, geht immer. Paul sollte an diesem Abend nicht der einzige Wildwestern-Boy bleiben und so trug Frederico Barela Manhani gleichzeitig einen Cowboy-Hut auf einem anderen Event. Was trivial erscheint, schlägt eine Verbindung der Modewelt, die oft von Spaltung geprägt ist. Boys, I like!

Verbindungen knüpft auch Bunte, die zwischen klassischem Printmedium und hippen Influencer-Tum die Bühne eröffnet und eine Hand reicht. Das ist großartig – und das ist anders, als ich es von meinen früheren Fashion Week Besuchen kenne. Vor gut 10 Jahren waren Blogger und Social Media zwar da, wurden aber betrachtet wie das müde Kind, welches man schnell zu Bett bringen möchte. Eine schöne Entwicklung und fantastische Geste von Bunte. Denn ohne Social Media und Influencer geht es eben nicht mehr. And just like that, ist auch in diesem Fall alles anders, aber irgendwie gleich. Denn wenngleich sich das Medium ändert, der Inhalt eint: Mode, Lifestyle, Beauty und Menschen.

Freunde treffen und transparente Mode observieren bei Studio Obectra
Weiter geht es zur ersten Schau in meinem Kalender: Studio Obectra. Die Stadt Berlin ist Programm, denn das hier heimische Label trägt die Handschrift der Berliner Underground-Szene. Boots, Harness, Netze und ganz viel Transparenz spiegeln den Geist der Techno-Hauptstadt wieder, womit sich das Label irgendwo zwischen den ebenfalls in Berlin ansässigen Marken Richert Beil und Namilia einordnet – Letzteres sogar von Paris wieder nach Berlin zurückgekommen und mit einem Oberteil in meinem Kleiderschrank vertreten.


Highlight von Show und Kollektion sind mein Freund aus der Heimat, Jonas, welcher als Model läuft sowie sein durchsichtiges Outfit, welches er trägt. Transparenz ist 2025 so wichtig wie nie – vor allem auch außerhalb der Mode. Hier denken wir nur an die Schlagworte Datenschutz, Politik und Ideologien. Über die schiere Kraft von transparenter Mode berichtete Vogue US bereits im vergangenen Jahr in einem ihrer Leitartikel. Jonas trägt den für mich besten Look der Show, die wahrlich großartig ist.

Wenn Shein keine Lösung mehr ist – und Valentino zu teuer bleibt: Zeit für Gespräche mit eBay und dem Fashion Council Germany
„Ein Kleid von Shein hält keine Sekunde, wenn man daran zerrt, doch das Material aus Polyester und Co. bleibt unzerstörbar Jahrhunderte auf diesem Planeten. Ein Kleid von Valentino hält diesem Stresstest stand, verrottet jedoch in bereits wenigen Jahren.“, verweist Carlo Capasa, Präsident der National Chamber of Italian Fashion beim Panel Talk Metamorphosis, über die Zukunft des Mode-Ökosystems – und bringt damit den Status quo der Industrie auf den Punkt. Christiane Arp nickt.
Der Fashion Council Germany bringt dieser Tage internationale und nationale Experten aus der Kreislaufwirtschaft und der Modebranche zusammen und bespricht die verschiedenen Facetten und notwendigen Veränderungen der Branche. Ich, irgendwo erste Reihe dazwischen, nickte ebenfalls und denke dabei an Familie und Freunde, mich und andere Menschen, die noch viel zu häufig viel zu billige Mode konsumieren.

Während die Kunstfasern von Fast-Fashion Marken wie Primark, Shein und Co. dank schlechter Verarbeitung nach wenigen Monaten auseinanderfallen und Jahrhunderte beim Verrottungsprozess benötigen, halten hochwertige Kleidungsstücke Jahrzehnte, während ihre Fasern aus Baumwolle, Leinen, Kaschmir und Co. schneller kompostiert sind als wir Haute Couture sagen können. Das ist bezeichnend und wird hier auf der Fashion Week Berlin im Rahmen von Metamorphosis besprochen.
Doch wie weiter? Es muss an die Politik. Und so ist und bleibt die Modewoche in Berlin vor allem deshalb relevant: Mailand, Paris, London und New York ergeben sich in der Nachhaltigkeit noch kaum. Mode ist politisch, Berlin erst recht – und die Fashion Week irgendwo dazwischen. Apropos …



Mode ist Identität – und manchmal verantwortlich für eine Wiedergeburt
…modische Politik oder politische Mode – in Berlin sind hier die Grenzen fließend und doch luzid. Ich sitze auf einem der 60 Plätze im Politbüro-Saal des Soho House Berlin und lausche einem Panel Talk, bei dem jeder Gast eine ganz eigene Geschichte zum politischen Horizont der Mode hat. And just like that, denke ich selbst an meine eigene.
Unvergessen ist das Experiment, als ich 2016 mit Burka in die Schule gegangen bin, um im Anschluss auf dem Blog darüber zu berichten. Dabei bedarf es nicht immer ein schwarzes Stück an Stoff vor dem Gesicht, um Blicke zu erregen. Als Mann tut es die Handtasche, als Frau der „zu knappe“ Rock – und im Allgemeinen ein Look, der über Jeans und Daunenjacke hinausgeht. Ein Raum voller Geschichten und persönlichen Anekdoten. Sowohl von den Talk-Gästen, als auch im modischen Herzen der Mannequin‘s auf den 60 besetzten Plätzen.

Jana Heinisch, die früher als Flugbegleiterin arbeitet und heute als Model tätig ist, berichtet vom modischen Sexismus der Berufskleidung (Frauen durften bis vor wenigen Jahren nur Absatzschuhe tragen), während Niels Holger Wien (Deutsches Mode-Institut) über den Kampf gegen Nazis in Berlin unmodische Bilder in die Gedanken malt. Von Widerstand und einem Feind gegenüberstehen kann Jean Gritsfeldt ebenfalls aus eigenen Erfahrungen berichten. Der ukrainische Designer zeigt in dieser Saison seine neue Kollektion in Berlin, welche er unter den Stern „Rebirth“ stellt. Der Saal ist so leise, dass man Nadel und Faden fallen hören könnte. Die Geschichten aber sind laut, schwer – und irgendwie kaum greifbar.

Am Abend stellt sich der Designer Gritsfeldt dieser Wiedergeburt. In einer Kunstinstallation verschmelzen Mode, Kunst und Performance zu einer warmen Masse. Kleidung präsentiert von Germany’s Next Top Model Teilnehmer Aldin, begutachtet von Rolf Scheider, während Jean zur Skulptur wird und ich unter dem Scheinwerfer schwitze. Ein schönes Symbolbild für Berlin, das schon immer ein politischer und künstlerischer Kochtopf für alle war.



„Nope“ – Stell dir vor es ist Krieg und keiner geht hin
Ich bin nicht die einzige Person, die beim Anblick der Kollektion dahinschmilzt – was nicht am warmen Scheinwerferlicht liegt. Mir fällt eine schwarze, wie Lack glänzende Handtasche mit der Aufschrift „Nope“ neben mir auf, was mich die Besitzerin 37 Sekunden später darauf ansprechen lässt. Wir lachen lautstark, als sie mich wissen lässt, dass es sich bei der Tasche um kein ausgeklügeltes Design, sondern um eine Schnapsidee von ihr handelt. Die vier Buchstaben habe sie selbst als Sticker am Accessoire für die Hand angebracht – und bekomme seitdem nur noch Komplimente für ihren Look. Work smarter, not harder.

Wäre es doch nur so leicht, zu den Kriegen auf der Welt „Nope“ zu sagen. „Stell dir vor es ist Krieg und keiner geht hin.“, dichtete Carl Sandburg bereits 1936, der als Junggeselle nicht nur optisch in die Show passen, sondern in Berlin bei den aktuellen Geschehnissen auch gebraucht würde. Und so findet der Abend ein Ende – und Gritsfeldt in Berlin nach seiner Wiedergeburt ein neues Zuhause.

Bareback in Berlin: Was klingt wie ein Porno, ist Mode zur Berlin Fashion Week 2025
Ein weiteres Highlight, das mir besonders in Erinnerung bleibt, war die Veranstaltung unter dem Motto „AS BARE AS YOU ARE“. Dabei musste ich bei der Einladung über den Namen schmunzeln. Bareback bezeichnet recht eindeutig eine bestimmte Art von Pornographie, bei der immer auf ein Kondom verzichtet wird. Umstritten und zum Selbstschutz nicht empfehlenswert – im modischen Kontext aber durchaus interessant. Synonym verstehe ich den Namen als Mode ohne Filter. Ganz authentisch. Eine Zutat, die der Mode hin und wieder fehlt.



Abseits der hochglanzpolierten Laufstege und herkömmlichen Inszenierungen wurde hier Mode in ihrer rohesten Form zelebriert. Gemeinsam mit der Creative Faculty der BSP Berlin bot die Plattform Neo.Fashion jungen Designer:innen in der Notagallery nicht nur Raum, sondern auch die Möglichkeit, wahre Freiheit der Mode zu erleben – als Ausdruck der eigenen Identität, ungeschminkt und unverstellt. In diesem inspirierenden Moment wurde deutlich: Mode ist weit mehr als nur Stoff auf Haut, sie ist ein kraftvolles Medium, das uns dazu einlädt, unser authentisches Selbst zu zeigen. Und wo geht dies unverfälschter als in Berlin?

Generell präsentiert sich mir die Fashion Week Berlin in diesem Jahr deutlich erwachsener und fachlicher. Es scheint, als wäre der große Hype von sonst kaum an der Modewoche interessierten Influencern vorbei. Wo es sich sonst nur um Selfies und Instagram-Stories drehte, geht es nun um Experten und Fachpresse. Lang lebe ein authentisch interessiertes Publikum. Denn mit interessierten Köpfen hat man gerne intensiven Austausch – ohne Filter, aber mit Kondom.
Vielleicht ist es auch ein Omen, dass in Zukunft Modejournalismus und Blogs für die Fashion Weeks dieser Welt wieder relevanter gegenüber reinem Social Media werden. Die Bunte würde es ganz sicher freuen – und mich natürlich auch. Denn woran Social Media oft scheitert, ist Geschichten ausführlicher zu erzählen. Wenngleich alte und neue Medien Hand in Hand gehen sollten, täte ein Update bei der Relevanz ganz gut. Und ein weiteres Highlight meiner 72 Stunden Fashion Week Berlin sollte dies bestätigen…

Backstage Pass – mit Kimyana Hachmann und Tonya Matyu
…Denn, last but not least, stand für mich ein Programmpunkt an, auf den ich mich unter anderem am meisten gefreut habe. 2018 habe ich am Vogue College (ehemals Condé Nast College) in London einen Kurs für Modejournalismus belegt – ein Kurs, der nicht nur mein Schreiben, sondern auch meinen Blick auf die Branche geprägt hat. Seitdem lebe und liebe ich es, mit meinem Blog Mister Matthew über Mode zu schreiben, Trends zu analysieren und Geschichten zu erzählen, die über bloße Ästhetik und Social Media Trends hinausgehen.

Umso spannender war es, bei dem Event von Kimyana Hachmann dabei zu sein, die nun mit ihrer eigenen Fashion-Journalism-Masterclass an den Start geht. „Warum gibt es für den Modejournalismus eigentlich kein Fitnessstudio in das man gehen und trainieren kann?”, ist mein absolutes Highlight-Zitat der jüngsten Gespräche auf der Fashion Week Berlin. Kimyana hat recht – und auch ich frage mich das. Sie hat beeindruckende Stationen hinter sich – von ELLE über Harper’s Bazaar bis Cartier und Armani Beauty – und zeigt, wie man sich als Modejournalistin in der Branche positioniert.



Modejournalismus ist überwiegend auch ein Netzwerk sein und haben. Das habe ich bereits bei meinen Fashion Weeks 2015, 2016 und 2017 gelernt. Und so lerne ich auch dieses Jahr wieder Menschen kennen, die mit Begeisterung über Mode schreiben – und dies nicht nur in einem Posting auf Social Media glorifizieren. Ein solches Netzwerk an Modeinteressierten ist wichtig. Für den eigenen Erfolg, als auch für die Modebranche an sich. So läuft mir Amira in die Arme, welche jüngst ihren eigenen Blog Your Local Amira auf Substack gegründet hat. Substack, der Ort der Stunde. Denn wo X, TikTok und Co. beim geschriebenen Wort nicht mithalten können, gedeihen die Blogs. Das Omen scheint zu stimmen.



Doch Modejournalismus funktioniert nicht ohne starke Bilder. Worte erzählen Geschichte, aber Bilder lassen sie lebendig werden. Das wurde beim Event besonders deutlich, denn es fand im Studio Stellar von Tonya Matyu statt – einer Fotografin, die ich 2023 in New York kennenlernen durfte und deren Arbeit ich sehr schätze. Ihre Backstage-Fotografien von verschiedenen Modenschauen haben einmal mehr gezeigt, wie eng Modefotografie und Modejournalismus miteinander verbunden sind.
Im Rahmen von Backstage Pass haben Kimyana und Tonya ihre Türen und Gedanken geöffnet – und gezeigt, wie Fashion Week Berlin und Modebranche am besten gehen: nämlich Hand in Hand mit einem Netzwerk. Girls, ihr rockt!

72 Stunden Fashion Week Berlin mit Mister Matthew
And just like that sitze ich 72 Stunden Fashion Week Berlin später wieder im Zug, den ich beinahe um 5 Sekunden verpasst hätte. Wenn man mit großen Blasen an den Füßen, einem noch größeren Koffer und der allergrößten Handtasche auf dem Weg zum Bahnhof in eine Demonstration gegen die AfD kommt, dann fragt man sich schon, ob man die nächste Fashion Week Berlin nicht gleich im Bundestag abhalten soll. Denn Mode kann politisch, Mode ist politisch – und sollte es noch viel mehr sein.

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