Im Auge des Betrachters
Stell dir mal vor, wir würden, Tag ein Tag aus, einen Spiegel mit uns herumtragen, in den wir immer dann schauen müssten, wenn wir wissen wollen wie wir aussehen und Bestätigung dafür brauchen. Die Gesellschaft würde das als narzisstisch abtun. Gerne erinnern wir uns hierbei an Narziss, den Sohn des Flussgottes Kephissos, der die Liebe anderer Menschen zurückwies und sich in sein Spiegelbild verliebte. Narzisstisch zu sein ist in unserer Gesellschaft ein absolutes No-Go. Ständig einen Spiegel mit uns umherzutragen, wäre es ebenfalls.
Doch wie so Vieles auch, liegt das alles im Auge des Betrachters. Denn während das sich ständige Einholen der eigenen Bestätigung in einem Spiegel als Fauxpas gilt, ist das sich ständige Einholen der gesellschaftlichen Meinung eine Tugend. Es wird sogar von uns erwartet. Mein Gegenüber ist zu jeder Sekunde wie ein Spiegel, der seine Gedanken, Meinungen und Verbesserungen auf mich projizieren will. Ein Paradoxon.
Ist hierbei verständlich was ich meine? Während das in den Spiegel Geschaue, wo nur ich mich kritisieren oder bestätigen kann, etwas Schlechtes sein soll, ist das sich Loslösen seiner eigenen Betrachtung hin zur Betrachtung des Gegenübers etwas Gutes. Das verstehe ich nicht? Da mein Gegenüber fast nie zu 100 Prozent mit meiner Betrachtung übereinstimmt, ist es doch ein Hochverrat an meinem eigenen Auge.
,,Schönheit liegt im Auge des Betrachters“, heißt es immer. Und das ist auch vollkommen richtig. Doch ist nicht die wichtigste Sache, dass ich mich selbst am schönsten finde? Eben genau dann, wenn ich morgens in den Spiegel schaue und mich für den Tag style und kleide? Doch, genau das ist das Wichtigste. Und in diesem Moment bin ich der Betrachter. Also liegt es in meinem Auge des Betrachters. Warum aber können wir uns von den Meinungen der anderen Betrachter nicht lossagen? Ein paar Gedanken.
Der Mensch
wird am Du
zum Ich
,,Der Mensch wird am Du zum Ich.“, so lautet eine Aussage von Martin Buber, aus dem Jahr 1923, auf die mich eine Freundin aufmerksam gemacht hat. Gemeint ist damit, dass erst durch das Aufeinandertreffen mit einer anderen Person, das eigene ,,Ich“ geformt werden kann. Eigentlich ziemlich logisch, nicht wahr? Aber eben für die Zukunft auch verheerend, wenn das ,,Ich“ dann mehr ,,Du“ ist als wirklich ,,Ich“.
Die Formung des ,,Ich’s“, anhand eines ,,Du’s“, beginnt schon mit der Geburt. Kindern fangen an sich an den Eltern zu orientieren, ahmen nach, lernen, übernehmen, lehnen ab. In der Schule sind es die Lehrer, die das ,,Du“ der Eltern überwiegend ablösen. Meinungen, Kritiken, Handhabungen, gute Eigenschaften, schlechte Vorgehensweisen, das Klima der Gedanken – alles prasselt als ,,Du“ auf das eigene ,,Ich“ ein. Sich dabei wirklich selbst formen, fast ein Ding der Unmöglichkeit. Man wird geformt, durch das allgemeine, soziale Umfeld. Als würde man ständig in einen Spiegel schauen, dabei aber nicht sich selbst, sondern jemand anderen sehen. Im Auge des Betrachters. Eines fremden Betrachters.
,,Der Mensch
wird am Du
zum Ich"
Im Auge
des Betrachters leben
Führt dieses Formen am ,,Du“ dazu, dass wir uns auch in späteren Jahren immer mehr an unserem Umfeld formen, statt auf uns selbst zu hören? Auf unser eigenes Spiegelbild? Auf uns selbst als Betrachter? Ich glaube schon. Tatsache ist, dass wir bei allem was wir tun, auch immer an das betrachtende Auge von anderen Leuten denken.
Zu dick, zu dünn, zu schwul, zu nuttig, zu seltsam, zu IRGENDWAS. Irgendwas, was dem Auge des Betrachters nicht gefallen könnte. Statt auf unser eigenes Spiegelbild zu hören, wo wir der alleinige Betrachter sind, ziehen wir andere Köpfe und Meinungen in unser Spiegelbild hinein und lassen es formen. Das geht bei einigen Menschen sogar so weit, dass sie nicht nur ihr Spiegelbild gar nicht mehr wiedererkennen, sondern dass es auch gar kein eigenes Spiegelbild mehr gibt.
Das finde ich traurig. Ja sogar furchtbar. Wir leben in einer Zeit, in der sich Frauen die Brüste vergrößern, um Männern besser zu gefallen. Eine Zeit, in der wir das Leben anderer Menschen am Smartphone verfolgen und unser eigenes Leben damit vergleichen. Wir nutzen Filter, um mehr Likes von Betrachtern zu bekommen, kaufen Statussymbole und setzen sie als Posting in unseren Status. Bevor wir etwas anziehen, weil es uns gefällt, denken wir an die Blicke und Meinungen der Anderen. Tanzen im Club ganz anders als wir das alleine zuhause tun. Geben uns allgemein so, dass uns das Auge des Betrachters mag. Big Brother is watching you – und auf dieses fremde Auge kommt es an.
Wir leben in einer Zeit, in der wir nur noch durch das Auge des Betrachters leben. Ekelhaft. Und auch ich kann mich davon natürlich nicht lossagen. Doch ich würde es gerne. Aber wie? Wurde doch auch ich mit dieser ,,Der Mensch wird am Du zum Ich.“-Mentalität groß.
Spiegelbild
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Ich möchte mir meinen Spiegel im Badezimmer von der Wand reißen, mir einfach das anziehen was ich möchte und dann mit dem Spiegel unter dem Arm davonlaufen. Und immer dann, wenn ich Bestätigung brauche, weil mich das Auge des Betrachters von gegenüber verunsichern will, nehme ich mir meinen Spiegel, schaue da hinein und flüstere leise doch bestimmend: ,,Schönheit liegt im Auge des Betrachters.“
Das böse Auge des Betrachters
Während ich so an mein Auge denke, sehend was ich sehen möchte, komme ich nicht umhin an all die anderen Augen zu denken, die Dinge sehen, die ich nicht sehen möchte. Denn wenn jeder nur noch das sehen kann, was er möchte, ist die Welt dann wirklich ein besserer Ort? Ich glaube nicht. Denn dann sehen viele Menschen auch Korruption, Mord und Lügen, während es kein anderes Auge als Betrachter gibt, welches sie dafür ermahnt und bestraft. Sind wir alle nur noch die eigenen Augen des Betrachters, dann wird es unweigerlich auch das böse Auge des Betrachters geben.
Ist es also wichtig, dass wir nicht nur in unseren eigenen Spiegel schauen, sondern gelegentlich auch einen Blick von außen zulassen, während wir selbst bei anderen lunschen? Ich glaube ja! Denn wenn wir nur in unseren eigenen Spiegel schauen, dann laufen wir Gefahr, dass wir uns darin verlieren. Wie Narziss, der in seinem Spiegelbild am See ertrank, weil er immer tiefer darin versinken wollte, ohne, dass ihn jemand warnte.
Schönheit liegt im Auge der Betrachter
– Die Mehrzahl
Wenn wir etwas als Gesellschaft wissen, dann ist es, dass Extremen niemals gut sind. So dürfen wir uns nicht nur nach fremden oder eigenen Augen richten, sondern müssen zwischen ,,Du” und ,,Ich” einen Mittelweg finden. Was im ersten Moment nach Kompromiss klingt, ist im zweiten Moment genau das, gemischt mit Toleranz, ausgedrückt mit ,,Wir“.
Wenn wir uns am Morgen vor dem Spiegel zurecht machen, unseren Spiegel abschrauben und mit uns nehmen, dann ist genau das der richtige Weg. Denn nur wenn wir unseren eigenen Spiegel dabei haben können auch andere darin hineingucken. Und das Gute, an dem gemeinsamen Blick in den Spiegel, ist, dass wir zu 100 Prozent genau das Gleiche sehen, ungeachtet dessen, ob wir es mögen.
Und so sollte es in Zukunft nicht mehr heißen ,,Schönheit liegt im Auge des Betrachters”, sondern: ,,Schönheit liegt im Auge der Betrachter”. Die Mehrzahl. Ein winzig kleiner Unterschied, mit riesengroßer Wirkung. Denn wie heißt es auch so schön: ,,Vier Augen sehen mehr als zwei”.